Dienstag, 30. April 2013

Džanes romanes? - „Sprichst Du Romani?“



„Ko kerďas peskere kherutne buťa?", fragt Anna Koptová mit herausforderndem Blick. Wer hat seine Hausaufgaben gemacht, lautet die Frage auf Romani. Die Lehrerin beugt sich zu den Schülern vor, beide Arme auf die Tischkante gestützt. Mit hochgezogenen Augenbrauen späht sie erwartungsvoll über ihre Brillenränder. Dann huscht ein Lächeln über ihr Gesicht.

Die Schüler wissen, dass die Frage nicht ganz ernst gemeint ist. Schließlich sind sie freiwillig hier. Durch das offene Fenster scheint die Sonne, die sich nach einem gewittrigen Tag durch die graue Wolkendecke gekämpft hat. Es war das erste Wärmegewitter des Jahres. Nun durchflutet der Sonnenschein den Kellerraum des Instituts der Slowakischen Akademie der Wissenschaften.


Ich sitze in der hintersten Reihe des Klassenraumes und erlebe ein seltenes Spektakel: Fünf berufstätige slowakische Muttersprachler drücken an diesem Nachmittag die Schulbank. Sie lernen Romani, die Sprache der Roma. Nicht nur für ihre Schüler, auch für Anna Koptová ist dieser Sprachkurs eine kleine Sensation. Er wird im Rahmen des überregionalen Förderprogramms Regsom-Regszom durch den EU-Regionalfonds (EFRE) finanziert. Für die Kursteilnehmer ist er kostenlos.

„Was haben Sie heute gegessen, Ondrej?“, fragt die Lehrerin auf Romani und richtet sich an den großen, hageren blonden Mann in der ersten Bank. Er hebt den Blick, lässt einen leisen Seufzer verlauten. „Gemüse….ähm…Reis…und...Olivenöl, “ presst er hervor. Sehr viel mehr kann Ondrej noch nicht sagen. Seit Februar erscheint er zweimal wöchentlich pünktlich um 16:30 Uhr zur Stunde.

Nach und nach bereitet die Lehrerin gemeinsam mit Ondrej das Mittagessen mit weiteren Vokabeln zu, bis eine reichhaltigen Mahlzeit aufgetischt ist: „Más heißt Fleisch, jandro heißt Ei. Ciral heißt Käse, kann aber auch Quark bedeuten“, erklärt sie. Wie so oft hat ein slowakisches Wort gleich mehrere Bedeutungen auf Romani. Die Schüler schreiben fleißig mit.


Nun geht das Wort an Peter, der seine Erlebnisse dieser Woche schildern soll. Der junge Mann ist Pfarrer in einer kleinen Gemeinde bei Košice mit einem hohen Roma-Bevölkerungsanteil. Durch seine Arbeit hat er bereits gute Vorkenntnisse der Fremdsprache. Doch nun scheitert er bei seiner Erzählung über einen Rollstuhlfahrer am entsprechenden Gefährt. „Hmm, verdan für Rollstuhl passt an dieser Stelle nicht“, unterbricht ihn die Lehrerin. „Wissen Sie, die Sprache der Roma ist in einer Zeit entstanden, als diese noch mit ihren Pferdewagen umherzogen. Rollstühle gab es damals noch nicht, “ sagt Koptová. „Sagen Sie doch „mašina“ oder helfen Sie sich mit einem Wort aus dem Slowakischen– das machen die Roma hierzulange genauso.“

Normalerweise unterrichtet die Schuldirektorin Kinder einer kleinen Privatschule im Stadtteil Nad jazerom, einem Siedlungsgebiet am äußeren Rand der Stadt. Die Kinder ihrer Schule kommen aus sozialschwachen Familien und leben fast ausschließlich in der berüchtigten Ghettosiedlung Lunik IX. Dass die Direktorin für den Sprachkurs die ganze Stadt per Tram durchqueren muss, macht ihr nichts aus. Für sie ist es ein großer Erfolg, dass sie überhaupt unterrichten kann. In der kommunistischen Ära war die Förderung von Minderheitensprachen, darunter Roma und Deutsch, verboten, bzw. nicht von staatlichem Interesse

Die meisten der 10 Kursteilnehmer treibt nicht etwa Neugier oder Nostalgie, sondern die pure Notwendigkeit hierher. Als Lehrer, Sozialarbeiter oder Polizisten stoßen sie in der Interaktion mit Roma aufgrund von sprachlichen Barrieren oft an ihre Grenzen.

Die Roma-Kinder in Peters Gemeinde sprechen nur ein paar Brocken Slowakisch. „Bei meiner täglichen Arbeit mit der lokalen Bevölkerung ist es einfach witzlos, wenn ein Dolmetscher übersetzen muss“, erklärt der Pfarrer. Auch die restlichen Teilnehmerinnen hat der Arbeitgeber auf den Sprachkurs aufmerksam gemacht.

Nur den hageren Ondrej treibt eine andere Motivation hierher. Er höre die Sprache der Roma täglich in der Straßenbahn, ohne sie zu verstehen. „Wir leben hier in zwei Kommunen nebeneinander und können so wie gar nicht miteinander kommunizieren.“ Mit der neu erlernten Sprache will Ondrej „Brücken bauen“ zwischen den Kommunen. Neulich erst rief er einer Gruppe Straßenmusikanten auf Romani zu „Toll, weiter so!“. Den Geigern fiel die Kinnlade herunter. Und der große, hagere Ondrej wuchs noch ein kleines bisschen höher.

Wenige Stunden nach dem Kurs erhalte ich eine lange Mail von Ondrej, in der er mir schreibt: „Wenn du einen Menschen in seiner Muttersprache ansprichst, öffnet sich dir der Weg zu seiner Seele.“ Ich antworte ihm auf Slowakisch mit dem beliebten Sprichwort meiner Mutter: „Je mehr Sprachen du sprichst, desto mehr bist du Mensch.“ 


Die Sprache der Sinti und Roma
Romani hat rund sechs Millionen Sprecher weltweit, davon allein 4,5 Millionen in Europa. Gemeinsam mit Sprachen wie Urdu und Hindi, gehört Romani zur indoarischen Sprachfamilie. Die Selbstbezeichnung der Roma (Rom „Mann“ oder „Ehemann“) ist indischen Ursprungs. Rom leitet sich möglicherweise aus dem Begriff Dom ab, dem Namen einer niedrigen Kaste von Wanderarbeitern (Musiker, Gaukler, Korbmacher, u.ä.).

Seit mehr als 800 Jahren hat sich Romani unabhängig von indischen Sprachen weiterentwickelt. Bis heute sind rund 700 Wörter indischen Ursprungs erhalten. In Europa haben sich zahlreiche Dialekte des Romani entwickelt, die sich von Region zu Region unterscheiden. 

Für mehr Infos: Marlene Mussner, OEW


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