Samstag, 31. August 2013

Zwischen Fressnapf und Farbtopf – über die zeitgenössische Kaschauer Kunstszene


Ich erinnere mich noch genau, wie ich Mirka (eigentlich Miriama) Kardošová zum ersten Mal begegnet bin. Es war beim Kulturmanager Treffen des Robert Bosch Institutes im April, kurz nach meiner Ankunft in Košice. Von einer „zeitgenössischen Kunstszene“ in der Stadt wusste ich bislang noch nichts und so schloss ich mich der Tour durch die „contemporary art scene in Košice“ an, die für die Kulturmanager organisiert worden war. Mirka führte damals die zehnköpfige Gruppe durch die Stadt.

Ich wusste von der jungen Slowakin bereits, dass sie selbst malte, weil mir ihre Bilder im Katalog des Künstleraustauschprogramms K.A.I.R. beim Durchblättern aufgefallen waren. Die blassen, unzugänglichen Gesichter, die düsteren Farben, eine diffuse, schemenhafte Szenerie, in der sie ihre Figuren in groteske, teilweise mehrdeutige Positionen setzt, sind mir im Gedächtnis geblieben.


Die Tour durch die „contemporary art scene in Košice“ hatten wir schnell hinter uns gebracht: Nach einer Stippvisite des Pyecka Studios, eine von Kunststudenten betriebene Galerie und zugleich das Zentrum des Street Art Communication Festivals*, besuchten wir einen Designshop, in dem Jungdesigner ihre selbstentworfenen Accessoires verkaufen. Am Ende landeten wir auf dem Gelände der Tabakfabrik in einer finsteren Halle, die sich D.I.G. Gallery nennt, eine Galerie für neue Medien. 

Als ich inmitten dieses schwarzen Saales die Orte der jungen Galeristen und Künstler noch einmal im Geiste durchlief, stellte ich erstmals überrascht fest, dass hier in meiner vermeintlich vertrauten Heimat gerade etwas vollkommen Neues entsteht. Die „contemporary art scene“ von Košice entwächst ihren Kinderschuhen, sie entpuppt sich aus ihrem Kokon. Langsam, kaum merklich, aber unaufhaltsam schreitet sie voran.

Führt das Kulturhauptstadtjahr zu einem Aufschwung der Kunstszene und verschafft es den jungen Künstlern mehr Präsenz? Stellt man Mirka diese Frage, nickt sie zwar, aber ihr Leben als aktive Künstlerin hat sich durch das Jahr 2013 nicht allzu sehr verändert. Sie half auf etlichen kulturellen Veranstaltungen aus, aber die Gelegenheit hier in Košice selbst auszustellen, hat sie zumindest in diesem Jahr noch nicht bekommen. „Das Kulturhauptstadtjahr gibt den Künstlern mehr Möglichkeiten sich zu präsentieren. Für Absolventen der Kunsthochschule bleibt es aber weiterhin nahezu unmöglich davon zu leben“, sagt die 25-Jährige.


Ich besuche Mirka in ihrer Wohnung in der Plattenbausiedlung „Nad Jazerom“. Sie hockt auf den Knien auf einem Kissen und arbeitet an ihrem Gemälde für einen Kunstwettbewerb. Ihr Freund nimmt es gelassen, dass der Gemeinschaftsraum dafür dauerhaft dem Atelier weichen muss. Doch nicht nur in diesem Raum, Mirkas Bilder sind überall in der Wohnung allgegenwärtig. Frauen- und Männergruppen tummeln sich auf ihren Gemälden. Die antagonistische Beziehung zwischen den Geschlechtern, ihre schwierige Kommunikation miteinander, das Zweideutige in ihren Handlungen sind wiedererkennbare Elemente in ihren Arbeiten.

Um zu überleben, jobbt die junge Kunstabsolventin in einem Hundesalon in der Innenstadt. Als ich eines Nachmittags vorbeischaue, ist der Laden gerade leer. Mirka nutzt die Gelegenheit für die Anprobe eines Kleides, welches sie für eine junge Balletttänzerin entworfen hat. Umgeben von Kauknochen, Säcken voller Hundefutter und Tierboxen wirbelt Mirka um die kleine Tänzerin herum und nimmt Maß an der zierlichen Gestalt. Das Klingeln an der Tür kündigt einen neuen Kunden an. Mirka eilt zum Tresen und verkauft ein Schild mit der Aufschrift „Achtung Hund“.


Dieses eine Leben ist beispielhaft für das junge Košice und die „contemporary art scene“. Sie entsteht in diesem Moment: in einer ehemaligen Tabakfabrik, einem Hinterhof oder auch, wenn’s sein muss, in einem Hundesalon. Umgeben von Fressnäpfen, zwischen alltäglichem Überlebenskampf und leidenschaftlicher Kreativität. Veränderungen entstehen eben oft nur auf diesem schmalen Grat.


Nachtrag
Das Kleid, welches Mirka für die Balletttänzerin entwarf, wird kommende Woche auf der Bazzart Design und Fashion Week präsentiert, welche vom 2.-8. September an diversen Orten in der Altstadt (Pyecka Studio, Synagoge auf der Glockengasse etc.) stattfindet. Nähere Infos zum Programm gibt es hier.

*Street Art Communication (SAC) Festival
Das Street Art Communication Festival fand in der Woche vom 19.-25. August zum fünften Mal in Folge in Košice statt. Es zieht Sprayer aus der ganzen Welt an. Nach und nach verändern die Künstler die grauen Fassaden der Stadt sowie die Akzeptanz der Bürger gegenüber Kunst im öffentlichen Raum.


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Freitag, 30. August 2013

Unterwegs in Miková – auf den Spuren von Andy Warhol



Vor nicht allzu langer Zeit besuchte ich im Nordosten der Slowakei die kleine Ortschaft Miková. Die 150-Seelen-Gemeinde liegt rund 7 Kilometer von Medzilaborce entfernt, versteckt in einer bewaldeten, nahezu unberührten Hügellandschaft der Niederen Beskiden. Aus Miková stammen Andy Warhols Eltern Andrej und Júlia Warhola (geb. Zavacká).

Will man sich in dieser Region auf die Spuren Andy Warhols begeben, muss man nicht allzu lange suchen. Bereits bei meiner Ankunft in der nächstgrößeren Stadt Medzilaborce begrüßt mich auf einer Tafel das in knalliges Gelb getauchte Konterfei Andy Warhols. Es wirbt für die schräg gegenüber stehende „Penzión Andy“. An jeder Ecke weisen Schilder auf den berühmtesten Sohn der Region hin. 


Die Einwohner von Medzilaborce beobachten mit Verwunderung den Rummel um diese fremde Berühmtheit mit russinischen Wurzeln, die in ihrem Viertel nahezu jeden Laternenpfahl schmückt. Andy Warhol ist hier weder geboren, noch setzte er Zeit seines Lebens je einen Fuß in die Gegend.

Als ich mit meiner russinischen Freundin Natália auf den Eingang des „Museums moderner Kunst Andy Warhols“ zugehe, beäugt uns auf dem großzügig betonierten Vorplatz eine Handvoll männlicher Gestalten. Sie wollen sofort von uns wissen, woher wir kommen. In der beschaulichen Ortschaft Medzilaborce spricht sich schnell herum, wenn mal wieder eine ausländische Touristengruppe aus „dem Westen“ den weiten Weg hierher gefunden hat, um den gigantischen Würfel namens „Museum moderner Kunst Andy Warhols“ zu besichtigen.


Viele der knapp 7000 Menschen in Medzilaborce haben das Museum seit seiner Gründung von vor 22 Jahren noch nie von innen gesehen, wie mir die Mutter von Natália berichtet. Dabei ist es das einzige Museum in ganz Europa, welches so gut wie ausschließlich Andy Warhols Werke in seiner ständigen Sammlung ausstellt. In Pittsburgh, Andys Geburtsort im US-Bundesstaat Pennsylvania, wurde erst drei Jahre später, im Jahr 1994, das Andy Warhol Museum, eröffnet.


Hier in Medzilaborce sind wir heute mit zwei weiteren Neugierigen die einzigen Besucher. Wir steigen eine bunt geblümte Treppe hinauf und stoßen auf der ersten Etage auf persönliche Gegenstände des Künstlers. Seine Brille, sein Taufhemd, persönliche Fotografien und auch sein Fotoapparat sind hier ausgestellt. Etwas unauffällig an einer Eckwand erblicke ich Werbekampagnen für vergangene Volkszählungen in der Slowakei. Diese wollen mit Hilfe Andy Warhols die Menschen im Nordosten des Landes davon überzeugen, sich zu ihrer russinischen Identität zu bekennen.


Ob sich der Künstler Zeit seines Lebens wirklich selbst zu seinen russinischen Wurzeln bekannt hätte, ist fraglich. „I come from nowhere,“ war Andys berühmte Floskel auf die Frage nach seiner Herkunft.

Wir betreten zahlreiche abgedunkelte Säle. Erst im Inneren des Museums wird mir bewusst, wie groß das Gebäude und die Sammlung Andy Warhols in Medzilaborce wirklich sind. Überall prangen seine Bilder an den Wänden, selbst die Tapeten sind bunt gemustert mit Ikonen oder dem Gesicht des Künstlers. Die schrillen Farben, die sich immer wiederholenden Motive haben eine meditative, fast einschläfernde Wirkung auf mich. – Oder liegt dies am fehlenden Tageslicht?

Eine Stunde später machen wir uns auf nach Miková. Von hier sind Andy Warhols Eltern zu Beginn des 20. Jahrhunderts in die USA aufgebrochen. Am Ortseingang weist ein leicht verblasstes Schild auf die Herkunft des Pop-Art-Künstlers hin. In dem hohen Gras und den wuchernden Hecken wirkt es merkwürdig verlassen. Ansonsten scheint sich in diesem malerischen Ort in den letzten Jahrzehnten nicht viel verändert zu haben. Kleine Steinhäuser aus dem vorigen Jahrhundert säumen die Straße. Keine Menschenseele ist zu sehen, einzig ein streunender Hund treibt sich träge auf dem schmalen Streifen Wiese entlang der Fahrbahn herum.
 
Auf der Suche nach Andy Warhols Spuren wollen wir auf dem städtischen Friedhof die Grabsteine der Familie Warhola finden. Hinter einer dichten Wand aus hohen, dunklen Bäumen dringen Stimmen zu uns herüber. Natália spricht zu der Gruppe Menschen im Garten auf ruthenisch, die Sprache der Russinen. Sie fragt, ob sie uns den Weg zum Friedhof von Miková zeigen können. Die Bewohner rufen uns sogleich zu sich herein. Zwei Männer mit karierten Hemden und eine Frau sitzen auf der Bank und trinken gemütlich ein Nachmittagsbier. Auf die Frage, ob es noch Verwandte von Andy Warhol in dem Ort gebe, zeigt der mittlere Herr mit dem Finger stolz auf seinen Bauch. „Janko, sein Cousin höchstpersönlich.“ 


Ján Zavacký stellt sich in einem Interview, welches wir auf diese Seite stellen dürfen, als der einzige, noch im Ort lebende Cousin vor. Andy selbst sei er zwar nie persönlich begegnet, dafür aber seinen Brüdern John und Paul, als sie anlässlich der Eröffnung des Museums nach Medzilaborce kamen. Er bedauert, dass das Warhol Museum nicht in Miková stehe. Am Ende lässt er sich über die Vorzüge des Kommunismus aus. Im Anschluss führt er uns zum Friedhof von Miková. Wir stellen bald fest, dass nahezu jedes zweite Grab den Namen „Warhola“ bzw. „Zavacký“ trägt.

Aussicht vom Friedhof auf den Ort von Miková
Der Mann zeigt uns auch das Grundstück, auf dem einst das Geburtshaus Andrej Warholas, des Vaters des Künstlers, stand. Den Grundriss des ursprünglichen Steinhauses aus dem 19. Jahrhundert können wir uns heute nur noch anhand des Neubaus vage vorstellen. Hinter dem Haus erstrecken sich kilometerweit Wiesen, die in sanften, bewaldeten Hügeln des nahen Mittelgebirges münden. Rechts neben dem Steinhaus entdecken wir einen quadratischen Kasten aus verwittertem Holz. Es ist der verschlossene Zugang zum noch existierenden Brunnen, wie uns Ján Zavacký erklärt. Mit feierlicher Miene verkündet er: „Aus diesem Brunnen haben einst noch Andys Eltern getrunken!“

ehemaliges Grundstück von Warhols Eltern mit zugedecktem Brunnen
Wie Pioniere fühlen Natália und ich uns trotzdem nicht, denn gleich im Anschluss sagt der ältere Herr im Nebensatz, er habe schon etliche Medienteams an diesen Ort geführt. – Wie wahr! Kurz nach meiner Heimkehr nach Košice erkenne ich ihn im Dokumentarfilm „Absolut Warhola“ von Stanislaw Mucha wieder, nur um einige Jahre jünger und mit etwas weniger rundlichem Bauch.

Auch Košice, die diesjährige Kulturhauptstadt, möchte sich ein wenig im Glanz des Künstlers sonnen. Anfang des Monats fand eine Pop-Art-Party zu seinen Ehren statt. Im Schaufenster der Konditorei Aida prangt seit Wochen ein Plakat mit der wohl berühmtesten Konserve der Welt. Und im Wachsfigurenmuseum im Urbanturm in Košice steht unweit des ehemaligen Präsidenten Rudolf Schuster auch eine Figur des Künstlers. Darüber, ob sich Andy Warhol das wohl gewünscht hätte, können wir nur Vermutungen anstellen. Der Kontrast zwischen dem ostslowakischen, teils ländlichen Charme und dem schrillen Kult um seine Person hätte den Künstler selbst vermutlich erheitert.

Wachsfigur Andy Warhols im Urbanturm in Kaschau

Nachtrag
Der Dokumentarfilm „Absolut Warhola“ des Regisseurs Stanisław Mucha hier zu sehen.

Ein Kurzbeitrag über die russinische Minderheit, Medzilaborce und Miková ist auf minet-TV abrufbar.

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Mittwoch, 28. August 2013

Rückkehr in die windige Stadt


Foto: Mathias Budzinski


Seit meiner Ankunft in meiner neuen, alten, Heimat säuselt er um meine Ohren. Es ist der Nordwind, der fortwährend  in den Kaschauer Talkessel hineinzieht. Košice ist umgeben von einer grünen bewaldeten Hügellandschaft, die die Stadt schützend wie eine Burg umschließt und den warmen Föhn einfängt. 

Der Wind, der Wind. Wie ein treuer Begleiter durchzieht ein luftiger Strom die Gässchen und Plätze der Innenstadt. Mal ist er sanftmütig, dann flüstert er heimlich vor sich hin, mal ist er impulsiv, dann rauscht und fegt er wild über die langen Korridore bis in den hintersten Winkel. Mal pustet er inbrünstig herab auf den Marktplatz oder kitzelt verspielt wie eine Feder über die Haut.

Er ist nicht zu vergleichen mit Hamburgs böiger, manchmal beißender Brise. Der angenehme Luftstrom wanderte schon seit jeher durch das Kaschauer Tal. Auch meine Mutter ist mit ihm seit Kindertagen vertraut. Sie empfahl mir eines ihrer liebsten Kinderbücher zu lesen, welches den Wind durch die Augen eines Kindes beschreibt: „Betka a Veterné mesto“ (Betka und die windige Stadt). In diesem Roman beschreibt Božena Mačingová (*1922), eine slowakische Kinder- und Jugendbuchautorin, das Leben des Grundschulmädchens Betka in ihrer Heimatstadt Košice. 

Betka begleitet der Wind Tag für Tag, bis in ihren nächtlichen Schlaf hinein. In ihrem Traum fliegt sie über die Dächer und die Kirchtürme der Stadt. Der rauschende Wind macht manchen Kindern Angst. Doch für das Schulmädchen ist er ein ständiger Begleiter, genauso wie für mich:  „Er singt vor sich hin. Man muss ihn nur verstehen, “ sagt Betka, die Heldin des Romans an einer Stelle.

Der Kinderroman „Betka a Veterné mesto“ (Betka und die windige Stadt) aus dem Jahre 1983 ist heute nur noch im Antiquariat zu bekommen. Ich erwarb ihn beim Onlinehändler „ČierneNaBielom“ für antiquarische Bücher. Ein Stempel „Klub abstinentov“ im Buch weist auf einen eigentümlichen Vorbesitzer hin… 
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Donnerstag, 22. August 2013

Pravda – Wahrheit


Der 21. August erinnert an den Einfall der Armeen des Warschauer Paktes (UdSSR, Ungarn, Polen, Bulgarien) in die ehemalige Tschechoslowakei. Die Okkupation des Landes sollte die Reformversuche der tschechoslowakischen Kommunistischen Partei unter Alexander Dubček aufhalten, der eine Liberalisierung und Demokratisierung des sozialistischen Regimes anstrebte.

In Košice erinnern sich viele Zeitzeugen an den Einfall der sowjetischen Armee, als wäre er erst gestern geschehen. Auf der Fußgängerzone von Kaschau berichteten mir die Einwohner am gestrigen Tag von ihren Erlebnissen. Eine neue Tafel wurde zum Gedenken an die getöteten Bürger von Košice angebracht. Viele Menschen kamen anlässlich dieses Ereignisses zusammen. Nur eine Person fehlte, an die ich am vergangenen Tag unentwegt denken musste: Tibor Kováč.

Ich erinnere mich genau, wie aufgeregt ich gewesen bin, als ich das erste Mal den 76-jährigen Herrn im Seniorenheim besuchte. Tibor Kováč saß in seinem Rollstuhl und sah auf, als ich sein Zimmer betrat. Erst wenig später fiel mir auf, dass er an mir vorbei lugte. Denn der ältere Herr war nahezu blind. Er forderte mich lächelnd auf, mich zu setzen, was bei mir zunächst für Ratlosigkeit sorgte, denn in dem kleinen Zimmer mit dem ockerfarbenen, glänzenden PVC-Boden stand nichts außer einem Schrank, einem Bett, einem mobilen Beistelltisch und einem Tresor.

So setzte ich mich ans Fußende des Bettes und stellte mich behutsam meinem Gegenüber vor. Dieser wollte ganz genau wissen, mit wem er es zu tun hatte und fragte mich sogleich nach meinem Presseausweis. „Ich kann Ihnen auch meinen zeigen, wenn Sie wollen, ich habe ihn immer noch“, sagte der Mann und kramte etwas unbeholfen in der kleinen gelben Tasche, die er an einem Band unter dem Hemd versteckt hielt. 

Schließlich, als ich ihm erzählte, dass ich als Stadtschreiberin in Kaschau tätig bin, erhellte sich seine Miene. „Da haben wir etwas gemeinsam, Fräulein Kristina, ich darf Sie doch so nennen, oder sind Sie etwa verheiratet?“ Für einen kurzen Moment huschte ein verschmitztes Lächeln über sein Gesicht und ich stellte mir vor, wie gut Tibor Kováč in seinen jungen Jahren ausgesehen haben muss. - Damals, mit 31 Jahren, während des Prager Frühlings, als er noch flink und frei auf den Beinen stand und für das Technische Museum in Košice fotografierte. Ich sah ihn vor meinen Augen, wie er sich im Künstlerclub mit seiner Clique, allesamt abstrakte Künstler, traf und wie sie dort begeistert, heimlich flüsternd Alexander Dubčeks "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" diskutierten.

 „Wissen Sie, Fräulein Kristina, wir haben etwas gemeinsam…“, er legte eine bedächtige Pause ein und hob den Zeigefinger: „Beide sind wir Tageschronisten. Beide dokumentieren wir den Alltag in Kaschau. Allein schon aus diesem Grund bin ich verpflichtet, Ihnen jede Frage nach besten Wissen und Gewissen zu beantworten. Das ist meine Pflicht als Journalist gegenüber der Öffentlichkeit!“ Mit feierlicher Miene und einem nachdrücklichen Ruck lehnte er sich in seinem Rollstuhl zurück. Es trat eine kleine Pause ein und ich konnte mir ein breites Lächeln nicht verkneifen. Ich war ehrlich begeistert.

„Ich habe noch bis vor kurzem täglich die Stadt fotografisch dokumentiert. Unabhängig davon, was mir damals zugestoßen ist, “ sagte Kováč und zeigte erklärend auf sich und seinen Rollstuhl herunter. Der Tag des 21. August 1968, vor genau 45 Jahren, sollte Tibor Kováčs Leben verändern. Da sich Košice nahe der ukrainischen Grenze befindet, erreichten die russischen Panzer die Innenstadt bereits gegen vier Uhr in der Früh. Niemand hatte mit einer Besatzung des „Brudervolkes“ gerechnet. „Ich erinnere mich an jenen Tag, wie heute. Das sind schreckliche Momente. Zufällig habe ich am Morgen um 8 Uhr die Nachrichten im Radio gehört. Erst dachte ich, es handele sich um ein Hörspiel. Dann kam ich aber schnell darauf, dass es um eine ernste Sache geht. Ich packte geschwind meinen Fotoapparat ein und eilte in die Innenstadt, wo ich schon einen großer Menschenauflauf vorfand.“

Etwa 1200 Menschen versammelten sich auf einer Kreuzung, als Tibor Kováč zu früher Stunde den Ort des Geschehens erreichte. Protestplakate wurden hochgehalten „Wir sind für Dubček“, „Es lebe die Freiheit“ „Es lebe die Demokratie“. Pikanterweise protestierten die Menschen an jenem Morgen auf dem „Platz der Befreier“ gegen die russische Armee, genau an jenem Ort, auf dem ein gigantisches Denkmal an die sowjetischen Soldaten erinnert, die zum Kriegsende von 1945 die Stadt befreiten.

Foto: Tibor Kováč, 21.08.1968
Kováč sah viele ratlose Gesichter angesichts der rollenden Panzer, die in Reih und Glied an den Einwohnern von Košice vorbezogen. Dennoch blieb es bis auf einige Backsteinwerfer relativ friedlich auf dem Platz. Einige Menschen versuchten mit den russischen Soldaten zu diskutieren, andere boten ihnen hämisch Brot und Salz an, ein gebräuchlicher Willkommensgruß.

Foto: Tibor Kováč, 21.08.1968
„Die Russen waren total desorientiert. Sie erwarteten einen militärischen Aufstand. In einem Transistorradio hörte ich, dass die Rede von einer Konterrevolution war, “ erinnerte sich Kováč. Er fotografierte die Ereignisse, bis er gegen 11.30 Uhr den Platz verließ, um Batterien für seinen Fotoapparat zu wechseln. Kurz darauf kehrte er wieder zurück. Inzwischen war die friedliche Stimmung gekippt. „Ein Junge hat einen Stein auf einen Panzer geworfen, daraufhin wurde er erschossen. Nachdem der erste Schuss in die Menschenmenge gefallen ist, ist die Situation eskaliert. Die Leute fingen an die Panzer anzuzünden und die militärischen Wagen umzuwerfen, “ fuhr er fort.

Foto: Tibor Kováč, 21.08.1968

Das letzte Motiv, welches Tibor Kováč an jenem Tag aufnahm, war jenes eines Panzers: im Hintergrund war ein Gebäude auf dem „Platz der Befreier“ zu sehen. Auf dem Dach des Hauses war die Aufschrift „Pravda“ (Wahrheit) angebracht, der Schriftzug einer Tageszeitung. Seine Fotografien ließ er noch am selben Tag in seinem Fotolabor entwickeln.

Am Abend auf dem Heimweg kehrte er zurück zum „Platz der Befreier“. Inzwischen war kaum eine Menschenseele zu sehen. Stille war eingekehrt. Einige letzte Panzer rollten über die Straße. „Ich wollte die letzte Straßenbahn nehmen. Dann plötzlich hörte ich ein Knacken, “ sagte Kováč. Es war 20.10 Uhr. Eine Kugel hatte den Fotografen im Kopf getroffen.

Tibor Kováč überlebte den Kopfschuss. Ärzte kämpften tagelang um sein Leben. Eine Freundin hatte ihm vier Tage später seine Aufnahmen vom 21. August ins Krankenhaus geschmuggelt. „Damit haben wir ein Stück Kaschauer Geschichte in Sicherheit gebracht!“, sagte er heute mit Abstand. Es gelang ihm bis zum Mauerfall die Fotografien versteckt zu halten. Von der Geheimpolizei wurden er und sein Umfeld aber mehrmals verhört.


Als ich ihn bei einem anderen Besuch bat, mir seine Fotografien vom Tag der Besatzung zu zeigen, veränderte Kováč augenblicklich die Miene und mahnte mich leiser zu sprechen. „Wir werden alle überwacht“, raunte er mit Furcht in der Stimme. Seine körperliche Verletzung ist ihm anzusehen. Doch was die vielen Jahre des real existierenden Sozialismus psychisch in ihm auslösten, bleibt für die Augen unsichtbar.

Tibor Kováč stellte seine Fotografien erstmalig im Jahr 2000 im Technischen Museum von Košice aus. Eine Entschädigung hat er nie erhalten. Er lebt heute zurückgezogen in einem Seniorenheim.

Aufschrift: Kováč R-O-V - Hackfleisch
Bei Protesten der Zivilbevölkerung im Zuge der Besetzung starben in der Slowakei 29 Menschen. In Košice starben am Tag der Invasion sechs Bürger und mindestens 57 Personen wurden verletzt.

Anmerkung: alle Fotografien dürfen mit freundlicher Genehmigung von Tibor Kováč auf dieser Seite veröffentlicht werden.

Weitere, erstmalig veröffentliche Fotografien sind hier zu finden.

Filmaufnahmen vom Einfall der sowjetischen Armee in die Stadt Kaschau am 21.08.1968

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Montag, 19. August 2013

Vom singenden und fliegenden Vogel Iva Bittová


Im Rahmen des Sommerfestivals in Kaschau "Leto v parku" (Sommer im Park), gab die tschechische Sängerin, Komponistin und Violinistin Iva Bittová zusammen mit der Gruppe Čikori am vergangenen Samstag ein Konzert auf dem ehemaligen Kasernengelände (Kasarne/Kulturpark). Iva Bittová ist eine international bekannte Künstlerin. In ihrer Heimat ist sie eine bedeutende Erscheinung in der alternativen Szene.

Mit einer Mischung aus Jazz, Folklore, Klassik und Klängen aus dem Urwald verzauberte die Künstlerin nicht nur mich mit ihrem kindlichen Charme. Ihre Einlagen als singender und fliegender Vogel sind einmalig. Viele junge Kaschauer sangen ihre Lieder lauthals mit. An ihren lächelnden Gesichtern war zu erkennen, dass sie als Kinder mit Musikkassetten Iva Bittovás aufgewachsen sind…Für mich war sie eine echte Entdeckung.

  

Iva Bittová wurde 1958 in Bruntál in Mähren geboren, beide Elternteile waren Musiker. Ihr Vater, Koloman Bitto, der seiner südslowakischen Heimat sehr verbunden war, konnte nahezu jedes Instrument spielen, sowohl im klassischen Stil als auch in der Folklore. Er gab sein Talent an Iva und ihre beiden Schwestern weiter.

In ihren jungen Jahren erhielt Iva Ballett- und Geigenunterricht. Im südmährischen Brünn besuchte sie ein sogenanntes "Konservatorium", eine Mittelschule in Tschechien und der Slowakei mit musischem Schwerpunkt. Bereits während ihrer Schulausbildung spielte sie in dem experimentellen Theater in Brünn "Gans an der Schnur". Später trat sie im Fernsehen sowie in verschiedenen Filmen auf und arbeite als Theaterschauspielerin.

Nach dem frühen Tod ihres Vaters entschied sie sich, als Musikerin und Komponistin, in seine Fußstapfen zu treten. Sie konzentrierte sich fortan verstärkt auf ihre musikalische Ausbildung und begann ab 1982 Geige zu studieren. 

Nachdem 17 Jahre lang die ländliche Region bei der Stadt Brünn ihr Zuhause gewesen war, übersiedelte sie 2007 in die USA. Dort lebt sie im grünen Hinterland News Yorks im Hudson-Tal. Ihr 1991 geborene Antonín ist ebenfalls Musiker.

Mehr Infos zu ihrer Musik und ihren aktuellen Konzerten gibt es hier.  Noch mehr zu sehen und zu hören hier.


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