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Sonntag, 14. Juli 2013

X-Wohnungen auf dem Platz der Stahlarbeiter




Ich blicke über die Schulter des Busfahrers mit Muskelshirt und Vokuhila auf das gigantische Stahlwerk U.S. Steel, dem größten Arbeitgeber in der Ostslowakei. 

Mit Anja Schaefer, einer deutschen Fotografin und Residenzkünstlerin in Kaschau, sitze ich in der heißen Mittagssonne in einem wackeligen Bus mit der Nummer 52. Über Landstraße fahren wir etwa 10 Minuten südwestlich der Innenstadt nach Šaca (gesprochen: Schatza), einem Stadtteil von Kaschau. 

Kurz darauf steigen wir auf dem Hauptplatz von Šaca aus. Dieser Industrieort, mit seinen rund 5.700 Einwohnern, scheint einzig aus zwei Bushaltestellen, einem Wettbüro und aus Wohnungsblöcken zu bestehen. Die Siedlung ist im Zuge der Errichtung der „Ostslowakischen Stahlwerke in Kaschau“ (heute U.S. Steel) Anfang der 1960er Jahre entstanden. Das Leben in Šaca wird bis heute maßgeblich vom Stahlwerk geprägt.

 

Mein erster Blick fällt auf das „Hotel Metal“, ein wenig einladender funktionalistischer Bau, in dem laut Bewohnern seit Ewigkeiten nur ein paar „Langzeit-Zeitarbeiter“ der Stahlfabrik nächtigen. Die 34-jährige Sonja, die in Šaca im Gemeindezentrum ehrenamtlich arbeitet, führt uns zum „Platz der Stahlarbeiter“ (Námestie Oceliarov). Hier stehen drei Wohnblöcke nebeneinander, deren Fassaden im Vergleich zu den anderen Mehrfamilienhäusern auffällig vernachlässigt sind. An einigen Stellen kommt der Backstein zum Vorschein. Jeder Haushalt scheint eine eigene Satellitenschüssel zu besitzen. Einige Frauen auf dem Hof hängen Wäsche auf Leinen auf und verfolgen uns mit neugierigen Blicken.


Wir steigen die düstere Treppe hoch in den dreistöckigen Hausflur. „In diesem Block leben nur Roma. Die Leute im Ort nennen es das Ghetto“, verrät uns Sonja und hilft einem kleinen Mädchen mit einem rosa Puppenwagen die Treppe hoch. Ein paar Bewohner sitzen auf Plastikstühlen im kühlen Schatten des dunklen Flures und unterhalten sich. Als sie uns erblicken, grüßen sie freundlich und fragen Sonja auf Romani, woher wir kommen. „Aha, Nemci, Nemci“, sagt eine ältere Dame vielsagend und nickt uns anerkennend zu.

Wir gehen zu Gabi, den hier jeder kennt. Der zweifache Vater arbeitet bei U.S. Steel und organisiert Sportveranstaltungen für Jugendliche in der Bürgerorganisation „Šačansky život“ (Leben in Šaca). „Hier arbeitet man entweder in der Stahlfabrik oder man ist arbeitslos“, sagt Gabi, der eigentlich Renée heißt, mit verschränkten tätowierten Armen. Wir sitzen am blitzblanken Tisch in seiner kleinen Küche. Hinter den weißen Einbauschränken sticht uns das Giftgrün der Küchenwand entgegen. Im Nebenzimmer, dem einzigen Zimmer in der kleinen Wohnung, hält sein Sohn gerade Mittagsschlaf. 


Gabi präsentiert seine Medaillen und Pokale, die er beim MFK Košice und FK Šaca gewonnen hat. Sein Vater, ebenfalls ein Arbeiter bei U.S. Steel, war sein eigener Fußballtrainer, bis er vor acht Jahren nach England "für ein besseres Leben ging“, wie uns der 25-Jährige erklärt. Jetzt hat Gabi, der inzwischen seine eigene Familie versorgen muss, keine Zeit mehr für eine Fußballkarriere. Dafür geht er mehrmals die Woche mit seinen Jungs in einem Keller trainieren. Dennoch kommt er ganz nach seinem Vater und engagiert sich in seinem Heimatort. „Bald planen wir die nächste Miss Roma Wahl. Komm doch auch vorbei! “ 

Wenig später besuchen wir Beata, die mit ihren vier Söhnen und Ehemann Marian in einer Zwei-Zimmer-Wohnung lebt. Auch Marian arbeitet im Stahlwerk. Beata hilft zeitweise in einem China-Geschäft aus. 

Sie bereitet uns sogleich einen Café und bietet uns an, uns zu setzen. Viele Sitzmöglichkeiten gibt es nicht in dem Raum, außer einem Bett, auf dem alle Matratzen gestapelt sind, einer Computerecke, über der die Fußballpokale Marians hängen, und einem kleinen Couchtisch. „Ich mach’s mir hier auf meinem Stühlchen gemütlich“, sagt Beata vergnügt und nimmt auf der kleinen Musikbox in der Ecke Platz. Die schwarze Lücke zwischen ihren Zähnen blitzt hervor. Kurz darauf erklärt sie mir, dass ihr die 60 € für eine Zahnbehandlung fehlen und sie deshalb lieber warte, bis der Zahn herausfällt, da Prothesen günstiger seien. „Nur schmerzhaft ist die Warterei!“

Anja Schaefer fotografiert derweil die Details in der Wohnung für ein Kunstprojekt. Die vielen Madonnenfiguren und die bunten Wände fallen sofort ins Auge. Beata entschuldigt sich, dass momentan keine Dekoration im Raum hängt. „Die Wand wartet noch auf ihren zweiten Anstrich.“ Marian, Beatas Ehemann, schaltet indes das Licht in der kleinen Küche aus, nachdem wir dort zu Ende fotografiert haben. 

Man spürt, dass die Familie sparsam lebt. Von der sonst oftmals beklagten „verschwenderischen Art der Zigeuner“ ist zumindest in diesen vier Wänden nicht viel zu spüren. Ich staune wie ordentlich der Sechs-Personen-Haushalt auf kaum Zwanzig Quadratmeter Wohnfläche lebt.

Während Anja munter weiter fotografiert, empört sich die sonst gut gelaunte Beata, dass sie zu jedem Jahresende eine Rechnung mit einer hohen Wassernachzahlung erhalte, obwohl das Wasser in ihrem Block ohnehin schon limitiert sei und nur alle drei Stunden fließe. „Ich frag‘ mich, wie wir so viel Wasser verbrauchen können, wo wir uns doch bereits alle das Badewasser teilen! Auf die Idee die alten Rohre aus den 1960er Jahren auszutauschen, kommt offensichtlich niemand hier in Šaca…“ 

Am Ende verspricht die Fotografin Anja das Familienbild beim nächsten Mal vorbeizubringen. „Wann genau?“, will Beata wissen. Die Dekoration der neugestrichenen Wände ist offenbar schon genau geplant.


Wir besuchten die beiden Roma-Wohnungen im Rahmen des internationalen Projektes X-Wohnungen, welches 2002 von dem Berliner Dramaturgen Matthias Lilienthal konzipiert wurde. Die mehrtätige Veranstaltungsreihe findet in Kaschau zwischen dem 26. und 29. September statt. In 14 Wohnungen werden an diesen Abenden parallel Künstler und Schauspieler auftreten und zehnminütige Performances, Konzerte und Theaterstücke für jeweils zwei Zuschauer aufführen. Die Besucher bekommen so Einblick in ihnen sonst unbekannte Stadtteile und das Leben ihrer Bewohner.

Fotostrecke






 
 

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Freitag, 26. April 2013

Empörung in Košice – Wie die Tagesschau die Kulturhauptstadt verärgert





„Wie nehmen die Bewohner von Košice ihren Titel als Kulturhauptstadt wahr?“, werde ich oft von meinen deutschen Bekannten gefragt. Spätestens seit Januar steht die Kulturhauptstadt im medialen Rampenlicht. So viel Aufmerksamkeit ist sie nicht gewohnt. – So viel Kritik ebenso wenig.
Der eine Bevölkerungsteil beäugt mit Sarkasmus, aber heiterer Miene die offenen Baustellen in der Stadt. Die schwarzen Plakate mit pinker Aufschrift „Košice, Europäische Kulturhauptstadt“, die meterhoch die grauen Wände der Innenstadt schmücken, deuten auf Bombastisches hin. Hoffentlich werde wenigstens eines der großangelegten Projekte zum Ende des Kulturjahres fertig, rechtzeitig, wenn alle Touristen längst wieder abgereist seien, so die Kommentare.
Der andere Teil wirkt weniger amüsiert. Die Kränkung über die ausländische Auseinandersetzung mit der „Kulturhauptstadt Košice“ sitzt tief. Die ausländische Berichterstattung sei hart und ungerecht. Westliche Journalisten würden den Titel der Kulturhauptstadt bloß als Vorwand nutzen. Statt von den historischen und kulturellen Reichtürmern der Stadt zu berichten, seien sie in Wirklichkeit bloß scharf auf die wuchernden Roma-Ghettos in und um Košice. 
Dabei habe die Stadt so viel mehr zu bieten: Košice, das erstmals im Jahre 1230 schriftliche Erwähnung fand, dessen St.-Elisabeth-Dom die größte Kirche der gesamten Slowakei sowie zugleich das östlichste Bauwerk der europäischen Hochgotik darstellt! Košice, die Stadt, die seit jeher Ungarn, Slowaken, Juden, Deutsche und Ruthenen friedlich unter einem Dach beherbergt und von multikultureller Vielfalt gerade nur so sprüht! Warum bloß wollen die Ausländer immerzu die Lage der „Zigeuner“ thematisieren?
Ein Blick in die deutsche Berichterstattung über die „Kulturhauptstadt Košice“ zeigt zu Recht: Die Artikel sind voller Schreckensberichte über die Situation der hier lebenden Roma.
Im Tagesthemen-Bericht vom 20. Januar 2013, am Tag nach der Eröffnungsfeier der Kulturhauptstadt, lautet es sogleich am Anfang: „Die slowakische Stadt Kosice ist neben dem französischen Marseille jetzt offiziell europäische Kulturhauptstadt. […] Rund um Kosice herrscht große Armut. Die ärmsten der Armen sind die Roma.“
Schätzungen zufolge leben 25.000 Roma in Košice, rund 10 Prozent der Stadtbevölkerung. Längst ist das Wohnblockviertel "Lunik IX" zum Inbegriff der Roma-Problematik in Kosice geworden. Es ist Ende der 1970er Jahre entstanden und zählt zu den jüngsten Plattenbausiedlungen der Stadt. – Doch Häuser, die ähnlich zerstört sind, findet man hier kaum. Fehlende Fenster, ausgebrannte Türen, Müllberge stauen sich vor den grauen Betonbauten. In der ursprünglich für 2400 Bewohner gebauten Wohnsiedlung, leben heute schätzungsweise 7000 Menschen – oder mehr. So genau kann das keiner sagen, denn fast jemand traut sich dort hin. In einem Haushalt leben durchschnittlich 12-14 Personen. Nahezu alle Lunik IX-Bewohner gehören der Roma-Bevölkerung an. In den 498 Wohnungen zahlt so gut wie niemand Miete. Als Konsequenz hat die Stadt dauerhaft fließendes Trinkwasser, den Strom und die Heizung abgestellt. 
Auch der Artikel der Onlineausgabe der TAZ vom 23.03.2013 kritisiert die Situation der Ghettoisierung der Roma aufs Schärfste: „In Lunik IX sind die Fassaden längst abgefallen und der Kulturhauptstadt Kosice, die so stolz auf ihre Minderheitenvielfalt ist, ist es offensichtlich völlig egal, dass sich mitten in ihrer Stadt eine Tragödie abspielt, die das ganze Kulturmarketing von Košice als den eigentlichen Schandfleck erscheinen lässt.“
Ich glaube den Bewohnern ist die Situation der Roma alles andere als egal. Aber gerne reden sie nicht darüber, wie auch die Vizebürgermeisterin Renata Lenartová im Bericht auf 3sat eingesteht. 
Die Ratlosigkeit der Bevölkerung spiegelt sich in abstrusen Lösungsvorschlägen wider: von Deportationen nach Indien, bereits durchgeführten Sterilisationen von Roma-Frauen gegen Geld bis hin zum Vorschlag einer ansässigen Bewohnerin „auf Lunik IX müsse man eine Bombe abwerfen“.
Vermutlich hofft die Kauschauer Bevölkerung darauf, dass sich das Problem alsbald von selbst löst. Jährlich verlassen zig Familien das Ghetto und suchen bessere Lebensbedingungen in den westlichen Ländern der Europäischen Union. Die Schuldirektorin Anna Koptová, die fast ausschließlich Kinder aus Lunik IX unterrichtet, spricht von sechs Roma-Kindern, die im Laufe des letzten Schuljahres die Klasse verlassen haben. Dänemark, Schweden, Niederlande, England und Deutschland sind beliebte Ziele. – Das „Roma-Problem“ ist längst ein Europäisches.


Stelle ich einem Bewohner der Stadt Košice die Frage, ob er eine Idee habe, was zu tun sei gegen die Armut, die fehlende Bildung und die grassierende Arbeitslosigkeit der Roma, nimmt unser Gespräch eine rasante emotionale Wendung. Unsere Diskussion endet dabei immer mit der Erzählung eines persönlich erlebten Negativerlebnisses mit einem Roma. Am Ende eines jeden Zwiegesprächs komme ich mir hilflos vor.
Ausländische Journalisten und auch ich haben selbstverständlich nur unsere Außenperspektive. Es ist die beschränkte Sicht auf ein Problem, welches seine lange Vorgeschichte hat. Selbstverständlich ist es plakativ und medienwirksam auf die Schnelle nach Lunik IX zu fahren und dort die Armut zu filmen. Schwieriger ist es, sich dem Thema auf vielschichtige Weise zu nähern. 
Wir kennen die Lebensbedingungen der hier lebenden Menschen kaum. Wir gehen nicht zur pränatalen Vorsorge und sehen zu, wie sich ein minderjähriges, hochschwangeres Roma-Mädchen ohne Ausweis, ohne Versichertenkarte zu ihrer ersten Kontrolle bei einer Frauenärztin vorstellt.
Wir ausländische Journalisten sind finanziell besser gestellt. Wir können selbstverständlich nicht beurteilen, wie es ist, nach über 40 Arbeitsjahren mit einer Rente von 200 € monatlich auszukommen. Wir müssen nicht beim Sozialamt Schlange stehen und zusehen, wie arbeitslose Roma-Eltern mit einer ganzen Kinderschar auftauchen und vor uns Sozialhilfe einkassieren. – Und nein, wir sind auf unserer kurzen Durchreise durch die Ostslowakei nicht zufällig von kleinen unschuldig dreinblickenden Roma-Kindern auf ganz hinterhältige Weise bestohlen worden. 
Aber dennoch sehen auch wir Ausländer die rauchenden Trabentensiedlungen auf dem Land, sehen die Müllberge, in denen Roma leben. Wir sehen die Löcher in den Wänden, die Roma (etwa mutwillig?!) ausgebrannt haben. Wir erschrecken, dass selbst schon ein Kindergartenkind zu wissen glaubt, dass „alle Zigeuner stinken und asozial sind“. – Wie können wir da wegsehen, weghören?
Nicht zuletzt graut es gerade uns deutschen Journalisten ganz besonders vor gesellschaftlich akzeptieren Unterscheidungen zwischen „Weißen“ und „Zigeunern“. Ethnische Bezeichnungen fallen hier alltäglich und so natürlich, dass die Bewohner von Košice diese gar nicht mehr wahrzunehmen scheinen. Genau dafür ist der „Blick der Fremde“ gut. Auch wenn er manchmal schmerzhaft ist.
Und doch: Das Kulturhauptstadtjahr Košice bietet eine Plattform für Roma. Ihre Einbindung in das kulturelle Programm ist zumindest in Ansätzen vorhanden. Sie geht über musikalische Einlagen hinaus, wie nicht zuletzt eine im Frühjahr realisierte Foto-Ausstellung „The Real People“ anschaulich darstellt. Sie zeigt keine „Zigeuner“, sondern eine Reihe integrierter Bürger unterschiedlicher Berufe mit Roma-Hintergrund. Solche Initiativen sind kleine Ansätze. Aber sie sind wichtig. Mehr davon!
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