Posts mit dem Label Zigeuner werden angezeigt. Alle Posts anzeigen
Posts mit dem Label Zigeuner werden angezeigt. Alle Posts anzeigen

Sonntag, 12. Mai 2013

Galaktische Aussichten

Es klopft an der Tür zum Büro des Direktoriums der privaten Schule im Kaschauer Stadtteil Nad jazerom. Die Schuldirektorin seufzt. Es ist bereits das dritte Mal innerhalb fünf Minuten. „Heute ist hier wirklich Tag der offenen Tür“, zischt Anna Koptová und ruft: „Herein!“

Als sie die Person in der Tür erblickt, erhellt sich ihr Ausdruck. „Ah Peter, du bist es!“ Ein junger Mann im schwarzen Pullunder und sorgfältig gebügeltem Hemd betritt den Raum. Stolz legt er ein dunkles Buch auf den Tisch. Es ist seine druckfrische Magisterarbeit in Katholischer Theologie. Ich erhasche einen Blick auf den Buchdeckel: „Matthäusevangelium“ steht dort in goldenen Lettern. Anna Koptová nimmt die Abschlussarbeit behutsam in die Hände, guckt dabei mit leuchtenden Augen abwechselnd zu ihrem ehemaligen Schüler und dann auf den vergoldeten Titel.

- Eine scheinbar banale Situation, der ich zufällig Zeuge werde. Für die beiden aber ist es ein historischer Moment. Denn Peter Gazi, ein angehender Priester, und Anna Koptová, die Schuldirektorin, sind beide slowakische Roma. Der 26-Jährige ist vermutlich der erste, der eine Übersetzung des Matthäusevangeliums in Romani, seiner Muttersprache, zu Stande gebracht hat.

Er zählt zu den wenigen Roma, die in der Slowakei eine akademische Laufbahn eingeschlagen haben. Wie viele es tatsächlich sind, kann keiner genau sagen. Slowakische Behörden führen darüber angeblich keine Statistiken. „In den letzten 60 Jahren können Sie die Studenten mit Roma-Hintergrund an ein paar Händen abzählen“, sagt Anna Koptová. Peter Gazi gehörte zum ersten Abschlussjahrgang des privaten Gymnasiums . „Allein schon für diesen jungen Mann ist es das wert gewesen diese Schule zu eröffnen“, wendet sich die Direktorin an mich.

Obwohl Roma in der Slowakei etwas weniger als 10 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen, landen bis zu 85 Prozent der Kinder in Sonderschulen und –klassen für Schüler mit "leichter geistiger Behinderung". Mit der Einschulung in die Sonderschule beginnt der Teufelskreis: welcher Betrieb stellt einen Sonderschüler ein? Und ohne Abitur rückt das Hochschulstudium in weite Ferne. 

Im September 2012 entschied erstmalig ein slowakisches Bezirksgericht im Nordosten des Landes, dass die Einrichtung von Sonderschulklassen für Roma-Kinder an einer Grundschule diskriminierend sei. Viele Schulen verlauten dagegen, das Lernniveau zwischen Roma-Kindern und der Mehrheitsbevölkerung sei zu unterschiedlich, weshalb es unmöglich sei die Kinder gemeinsam zu unterrichten. Roma-Schüler kämen ohne Arbeitsmaterial in die Schule und ihre Körperhygiene läge weit unter der gesellschaftlich verträglichen Norm.

Anna Koptová sagt, sie könne gut verstehen, wenn Eltern nicht wollen, dass ihr Schützling neben einem schmutzigen, von Flöhen befallenen „Zigeuner-Kind“ sitzt. „Aber was wollen wir denn von diesen Kindern erwarten, wenn sie in einem Viertel ohne fließend Wasser und Elektrizität leben?“


An ihrer kleinen Privatschule, das aus der StiftungGood Romani Fairy Kesaj Village Foundation(slowakisch Nadacia Dobrá romská víla Kesaj) hervorgeht, kommen so gut wie alle Schüler aus dem Roma-Ghetto Lunik IX. Nach der Musik- und Kunstschule („Konzervátorim Exnárová“) in Košice, die 1991 etabliert wurde, entstand ihr Gymnasium 2003 als zweite Schule in der Ostslowakei, an der auch auf Romani unterrichtet wird. An Anna Koptovás Gymnasium wurden vor zehn Jahren in einem Pilotprojekt Schulmaterialen auf Romani und ein Lehrplan für Romanesische Sprache und Literatur entwickelt. In den letzten fünf Jahrgängen haben 60 Roma die Schule mit Hochschulreife verlassen. - Eine vergleichsweise hohe Anzahl für ein Gymnasium in der Slowakei. Jana Tesserová, die ehemalige Direktorin des städtischen Gymnasiums Šrobárka in Košice erinnert sich nur an 5-7 Roma-Abiturienten in ihrer 16-jährigen Direktorslaufbahn.

Grundschule und Gymnasium auf der "Galactická"
Doch der kleinen Privatschule, die ironischerweise auf der „Galaktischen Straße“ liegt, mangelt es akut an finanziellen Mitteln: auf den Toiletten tropft der Wasserhahn, Türgriffe hängen lose in schief hängenden Türen und die mobiliare Ausstattung ist auf das Minimalste reduziert. Der staatliche Zuschuss berechnet sich nach der Anzahl der Schüler und diese ist in diesem Jahrgang mit insgesamt 65 Gymnasiasten wahrhaftig sehr gering. 

Pavol Ičo nimmt mich mit in seinen Englischunterricht. Der junge Mann ist eigentlich Sprachwissenschaftler. Zwar hat er bereits jahrelang als Englisch-Übersetzer gearbeitet, doch für seine Lehrtätigkeit holt er noch das benötigte Diplom in Pädagogik nach. 17 Schüler aus der 5.Klasse stellen sich mir vor: „My name is Maria. I am Slovak and I am from Kosice“, sagt ein kleines Mädchen mit dunkler langer gelockter Mähne und Piercing in der Nase. 

Die Mädchen tragen große Reifenohrringe, diese scheinen momentan im Trend zu sein. Nachdem sich die Schüler vorgestellt haben, erzähle ich ihnen auf Englisch von Hamburg: vom Hafen, von Schiffen und der Elbe. Doch das alles scheint selbst mir an diesem Ort weit weg zu sein. Fasziniert lauschen die Kinder meinen Worten und folgen mit den Augen jede meiner Regungen. – Hier bin ich die Fremde. Für Pavol Ičo hingegen ist es schwer, seine Schüler zu bändigen. Cindy spielt pausenlos an ihrem Handy. Richard, ein wesentlich älterer Junge, lässt sich zu keiner einzigen Beteiligung ermuntern. 


Als wir am Ende der Schulstunde den Klassenraum verlassen, wundere ich mich, dass der Lehrer die abgewetzten Hefte wieder einsammelt. „Das Schulmaterial können wir den Kindern nicht mitgeben, die wären nach einer Woche völlig zerschlissen oder gar verschwunden. Eigentlich müssten die Eltern für die Schulbücher aufkommen, das tun sie aber nicht. Deswegen stellt die Schule ihnen die Bücher. Kopien zerreißen oder zerkrümeln sie sofort. Das ist eben ihre Mentalität. Da kann man nichts machen, “ erklärt er mit einem Schulterzucken... Nachdem mich Pavol Ičo vor dem Lehrerzimmer verabschiedet, rufen Maria und ihre Freundinnen auf Wiedersehen und winken mir noch lange durch den Flur hinterher. Auf dem Heimweg frage ich mich, ob die lockige Maria es bis zur Hochschulreife schaffen wird.

Wieder zuhause lässt mich Anna Koptovás Bemerkung über Statistiken der Roma-Abiturienten in der Stadt nicht los. Nachdem ich mich am nächsten Morgen durch etliche Warteschleifen der Kaschauer Verwaltungen telefoniere, setzt mich eine Dame der Schulbehörde darüber in Kenntnis, dass eine nach Ethnien unterteilte Statistik, laut dem neuen Antidiskriminierungsgesetz, verboten sei, und wozu ich das denn überhaupt wissen wolle. Rumms. Das Telefonat ist beendet. 

Peter Gazis Worte von gestern zur Bildungssituation der Roma hallen in meinen Ohren nach: „Es ist so eine tickende Bombe, und ich habe das Gefühl, einige warten nur darauf, dass sie explodiert.“ -

Ich hoffe der Staat nimmt bald Abschied von seiner „Sonderschul-Abschiebemethode“. Schließlich weiß das Land jetzt schon jetzt nicht mehr, wohin mit all seinen „mental retardierten“ Bürgern…

Auf der Internetseite eines Kaschauer Gymnasiums stoße ich auf folgendes Sprichwort: Gibst du einem Mann einen Fisch, nährt er sich einmal. Lehrst Du ihn das Fischen, nährt er sich ein ganzes Leben. (Lao-Tse, 480-390 n. Chr.) - Den Schwierigkeiten zum Trotz ist die Privatschule auf der Galaktischen Straße ein Lichtblick für die Ausbildung der Roma in der Slowakei.

Das Schulsystem in der Slowakei
In der Slowakei besteht zehnjährige Schulpflicht. Die Schüler gehen in den meisten Fällen auf eine neunjährige Grundschule. Nach dem erfolgreichen Abschluss des 9. Schuljahres können sie an einer vier- bis fünfjährigen „Mittelschule“ (Gymnasium) das Abitur absolvieren und im Anschluss studieren. Neben der akademischen Laufbahn gibt es, ähnlich wie im deutschen Schulsystem, weiterführende fachbezogene Schulen, an denen Schüler eine Lehre machen. 

Teilen

Freitag, 26. April 2013

Empörung in Košice – Wie die Tagesschau die Kulturhauptstadt verärgert





„Wie nehmen die Bewohner von Košice ihren Titel als Kulturhauptstadt wahr?“, werde ich oft von meinen deutschen Bekannten gefragt. Spätestens seit Januar steht die Kulturhauptstadt im medialen Rampenlicht. So viel Aufmerksamkeit ist sie nicht gewohnt. – So viel Kritik ebenso wenig.
Der eine Bevölkerungsteil beäugt mit Sarkasmus, aber heiterer Miene die offenen Baustellen in der Stadt. Die schwarzen Plakate mit pinker Aufschrift „Košice, Europäische Kulturhauptstadt“, die meterhoch die grauen Wände der Innenstadt schmücken, deuten auf Bombastisches hin. Hoffentlich werde wenigstens eines der großangelegten Projekte zum Ende des Kulturjahres fertig, rechtzeitig, wenn alle Touristen längst wieder abgereist seien, so die Kommentare.
Der andere Teil wirkt weniger amüsiert. Die Kränkung über die ausländische Auseinandersetzung mit der „Kulturhauptstadt Košice“ sitzt tief. Die ausländische Berichterstattung sei hart und ungerecht. Westliche Journalisten würden den Titel der Kulturhauptstadt bloß als Vorwand nutzen. Statt von den historischen und kulturellen Reichtürmern der Stadt zu berichten, seien sie in Wirklichkeit bloß scharf auf die wuchernden Roma-Ghettos in und um Košice. 
Dabei habe die Stadt so viel mehr zu bieten: Košice, das erstmals im Jahre 1230 schriftliche Erwähnung fand, dessen St.-Elisabeth-Dom die größte Kirche der gesamten Slowakei sowie zugleich das östlichste Bauwerk der europäischen Hochgotik darstellt! Košice, die Stadt, die seit jeher Ungarn, Slowaken, Juden, Deutsche und Ruthenen friedlich unter einem Dach beherbergt und von multikultureller Vielfalt gerade nur so sprüht! Warum bloß wollen die Ausländer immerzu die Lage der „Zigeuner“ thematisieren?
Ein Blick in die deutsche Berichterstattung über die „Kulturhauptstadt Košice“ zeigt zu Recht: Die Artikel sind voller Schreckensberichte über die Situation der hier lebenden Roma.
Im Tagesthemen-Bericht vom 20. Januar 2013, am Tag nach der Eröffnungsfeier der Kulturhauptstadt, lautet es sogleich am Anfang: „Die slowakische Stadt Kosice ist neben dem französischen Marseille jetzt offiziell europäische Kulturhauptstadt. […] Rund um Kosice herrscht große Armut. Die ärmsten der Armen sind die Roma.“
Schätzungen zufolge leben 25.000 Roma in Košice, rund 10 Prozent der Stadtbevölkerung. Längst ist das Wohnblockviertel "Lunik IX" zum Inbegriff der Roma-Problematik in Kosice geworden. Es ist Ende der 1970er Jahre entstanden und zählt zu den jüngsten Plattenbausiedlungen der Stadt. – Doch Häuser, die ähnlich zerstört sind, findet man hier kaum. Fehlende Fenster, ausgebrannte Türen, Müllberge stauen sich vor den grauen Betonbauten. In der ursprünglich für 2400 Bewohner gebauten Wohnsiedlung, leben heute schätzungsweise 7000 Menschen – oder mehr. So genau kann das keiner sagen, denn fast jemand traut sich dort hin. In einem Haushalt leben durchschnittlich 12-14 Personen. Nahezu alle Lunik IX-Bewohner gehören der Roma-Bevölkerung an. In den 498 Wohnungen zahlt so gut wie niemand Miete. Als Konsequenz hat die Stadt dauerhaft fließendes Trinkwasser, den Strom und die Heizung abgestellt. 
Auch der Artikel der Onlineausgabe der TAZ vom 23.03.2013 kritisiert die Situation der Ghettoisierung der Roma aufs Schärfste: „In Lunik IX sind die Fassaden längst abgefallen und der Kulturhauptstadt Kosice, die so stolz auf ihre Minderheitenvielfalt ist, ist es offensichtlich völlig egal, dass sich mitten in ihrer Stadt eine Tragödie abspielt, die das ganze Kulturmarketing von Košice als den eigentlichen Schandfleck erscheinen lässt.“
Ich glaube den Bewohnern ist die Situation der Roma alles andere als egal. Aber gerne reden sie nicht darüber, wie auch die Vizebürgermeisterin Renata Lenartová im Bericht auf 3sat eingesteht. 
Die Ratlosigkeit der Bevölkerung spiegelt sich in abstrusen Lösungsvorschlägen wider: von Deportationen nach Indien, bereits durchgeführten Sterilisationen von Roma-Frauen gegen Geld bis hin zum Vorschlag einer ansässigen Bewohnerin „auf Lunik IX müsse man eine Bombe abwerfen“.
Vermutlich hofft die Kauschauer Bevölkerung darauf, dass sich das Problem alsbald von selbst löst. Jährlich verlassen zig Familien das Ghetto und suchen bessere Lebensbedingungen in den westlichen Ländern der Europäischen Union. Die Schuldirektorin Anna Koptová, die fast ausschließlich Kinder aus Lunik IX unterrichtet, spricht von sechs Roma-Kindern, die im Laufe des letzten Schuljahres die Klasse verlassen haben. Dänemark, Schweden, Niederlande, England und Deutschland sind beliebte Ziele. – Das „Roma-Problem“ ist längst ein Europäisches.


Stelle ich einem Bewohner der Stadt Košice die Frage, ob er eine Idee habe, was zu tun sei gegen die Armut, die fehlende Bildung und die grassierende Arbeitslosigkeit der Roma, nimmt unser Gespräch eine rasante emotionale Wendung. Unsere Diskussion endet dabei immer mit der Erzählung eines persönlich erlebten Negativerlebnisses mit einem Roma. Am Ende eines jeden Zwiegesprächs komme ich mir hilflos vor.
Ausländische Journalisten und auch ich haben selbstverständlich nur unsere Außenperspektive. Es ist die beschränkte Sicht auf ein Problem, welches seine lange Vorgeschichte hat. Selbstverständlich ist es plakativ und medienwirksam auf die Schnelle nach Lunik IX zu fahren und dort die Armut zu filmen. Schwieriger ist es, sich dem Thema auf vielschichtige Weise zu nähern. 
Wir kennen die Lebensbedingungen der hier lebenden Menschen kaum. Wir gehen nicht zur pränatalen Vorsorge und sehen zu, wie sich ein minderjähriges, hochschwangeres Roma-Mädchen ohne Ausweis, ohne Versichertenkarte zu ihrer ersten Kontrolle bei einer Frauenärztin vorstellt.
Wir ausländische Journalisten sind finanziell besser gestellt. Wir können selbstverständlich nicht beurteilen, wie es ist, nach über 40 Arbeitsjahren mit einer Rente von 200 € monatlich auszukommen. Wir müssen nicht beim Sozialamt Schlange stehen und zusehen, wie arbeitslose Roma-Eltern mit einer ganzen Kinderschar auftauchen und vor uns Sozialhilfe einkassieren. – Und nein, wir sind auf unserer kurzen Durchreise durch die Ostslowakei nicht zufällig von kleinen unschuldig dreinblickenden Roma-Kindern auf ganz hinterhältige Weise bestohlen worden. 
Aber dennoch sehen auch wir Ausländer die rauchenden Trabentensiedlungen auf dem Land, sehen die Müllberge, in denen Roma leben. Wir sehen die Löcher in den Wänden, die Roma (etwa mutwillig?!) ausgebrannt haben. Wir erschrecken, dass selbst schon ein Kindergartenkind zu wissen glaubt, dass „alle Zigeuner stinken und asozial sind“. – Wie können wir da wegsehen, weghören?
Nicht zuletzt graut es gerade uns deutschen Journalisten ganz besonders vor gesellschaftlich akzeptieren Unterscheidungen zwischen „Weißen“ und „Zigeunern“. Ethnische Bezeichnungen fallen hier alltäglich und so natürlich, dass die Bewohner von Košice diese gar nicht mehr wahrzunehmen scheinen. Genau dafür ist der „Blick der Fremde“ gut. Auch wenn er manchmal schmerzhaft ist.
Und doch: Das Kulturhauptstadtjahr Košice bietet eine Plattform für Roma. Ihre Einbindung in das kulturelle Programm ist zumindest in Ansätzen vorhanden. Sie geht über musikalische Einlagen hinaus, wie nicht zuletzt eine im Frühjahr realisierte Foto-Ausstellung „The Real People“ anschaulich darstellt. Sie zeigt keine „Zigeuner“, sondern eine Reihe integrierter Bürger unterschiedlicher Berufe mit Roma-Hintergrund. Solche Initiativen sind kleine Ansätze. Aber sie sind wichtig. Mehr davon!
Teilen