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Mittwoch, 31. Juli 2013

Ľudmila und die neuen Dargover Helden


Dass „früher alles besser“ war, hört Ľudmila Horňáková immer wieder. In der Seniorengruppe, die sie seit Herbst letzten Jahres einmal wöchentlich betreut, fällt dieser Satz recht häufig. Vermutlich gerade dann, wenn die Senioren dienstags in ihrem Gruppenraum in der Siedlung „der Dargover Helden“ zusammen sitzen und an ihrem vierteljährlichen Magazin „Letokruhy“ (Jahresringe) feilen.

Doch die 27-jährige Ľudmila weicht diesen Themen nicht aus. Im Gegenteil, sie will ganz genau wissen, was früher im Sozialismus anders war und inwieweit sich der Wechsel vom damaligen zum heutigen Regime auf die Beziehungen zwischen Alt und Jung ausgewirkt hat. 


Die gebürtige Kaschauerin hat in Bratislava Bildende Kunst studiert und sich auf die projektbezogene Arbeit mit Laiengruppen spezialisiert. In der acht- bis zwölfköpfigen Gruppe „Von z kruhu“ (Raus aus dem Kreis), die sie im Rahmen des Kulturhauptstadtprojektes SPOTS betreut, will Ľudmila neben handwerklichen Arbeiten Brücken zwischen den Generationen bauen. „Seitdem ich mit den Senioren arbeite, hat sich mein Blick für die ältere Generation komplett verändert. Die Menschen reden genauso über Liebe und Sex, haben Ängste, Ziele und Träume, wie wir alle, “ sagt die junge Künstlerin. 

Ihre Gespräche mit den Rentnern vermitteln ihr den Eindruck, dass die Familien während des Kommunismus mehr zusammengehalten haben. „Und das allein schon deswegen, weil sie aufgrund der räumlichen und materiellen Einschränkungen mehr miteinander teilen mussten. Früher konnte man die eigene Oma nicht einfach ins Seniorenheim stecken. Zu jener Zeit gab es kaum solche Einrichtungen“, erklärt Ľudmila. „Da herrschte noch nicht ein so großer Graben zwischen den Generationen, weil jeder neben seiner eigentlichen Arbeit auch noch seine festen Funktionen in der Familie sowie im Bekanntenkreis innehatte, ob als Großeltern, Eltern oder Freunde.“ Dieser Zusammenhalt habe sich in der „neuen Zeit“ aufgelöst und die Menschen voneinander distanziert und isoliert. 


Mir selbst kommt es hingegen vor, als lebe das alte System in den Gewohnheiten vieler Menschen weiter fort. Dabei muss ich unweigerlich an die vielen Marmeladengläser denken, die sich im Laufe des letzten Wochenendes auf meinem Küchentisch gesammelt haben. Ein Teil davon stammt von meinem Freund und Kollegen Ernest, der mir neulich seine hausgemachte Konfitüre und seinen selbstgemachten Branntwein vorbeibrachte. Der andere Teil stammt von meiner Großmutter, die mich mit ihrem Kirschlikör und selbstgemachter Aprikosenmarmelade versorgte. 



Sicher, hausgemachte Konfitüren sind auch in Deutschland keine Seltenheit. Der eine oder andere Mutige brennt vermutlich sogar klammheimlich seinen Schnaps in den eigenen vier Wänden. Aber diesen kleinen Gesten, diesen täglichen Tauschgeschäften zwischen Nachbarn – „Mein Gartengemüse gegen deine Obstbaumfrüchte“ – begegne ich hier immer wieder. Ist das etwa das „postkommunistische Erbe“, die vielzitierte Herzlichkeit, die hier unter den Menschen zu finden ist? 

Mir scheint es fast so. Selbst bei Arztbesuchen, Drehgenehmigungen und anderen Terminen, ist der informelle, persönliche Weg über Bekannte und Verwandte oftmals vielversprechender. Diese Wege verlaufen hier längst nicht so bürokratisch, wie ich es aus Deutschland gewohnt bin. Vergleichsweise groß hingegen sind hierzulande die Sprachlosigkeit und die Ohnmacht gegenüber dem demographischen Wandel und den sich auflösenden sozialen Strukturen. 


Gerade erst letztes Wochenende thematisierte die Künstlerin Ľudmila diese Problematik in dem Siedlungsgebiet „der Dargover Helden“ (umgangssprachlich Furča). Vorbeigehende Passanten sprach sie an, ihre Gedanken über die Beziehungen zu ihren Angehörigen mit Filzstiften auf einer großen Reklamefläche aufzuzeichnen. Neben Werbetafeln für glatte Beine, schnelle Autos und ferne Urlaubsziele hielten die Passanten Gedanken über die Mitmenschen fest, die ihnen nahe stehen. 


Das Ergebnis ist eine große, weiße, vollgekritzelte Fläche. Auf den ersten Blick unscheinbar, berührte sie jedoch sowohl die Verfasser, vorbeigehende Menschen, Ľudmila als auch mich. Ein junges Mädchen schrieb beispielsweise, dass sie ihre Großeltern täglich sehe, dass diese sie miterziehen würden und dass sie hoffe, ihren Erwartungen „gerecht zu werden“. Ich finde mich in diesem Bekenntnis wieder. Auch mir ist dieses Gefühl nicht fremd. 

Eine andere Person an der Tafel merkt an: „Es ist schwierig, jemandem zu sagen, wie sehr du ihn schätzt, solange er bei dir ist. Erst wenn er fortgeht, wird dir bewusst, wie sehr er dir fehlt, bei jeder Kleinigkeit, selbst in den Momenten, in denen er dich geärgert hat.“ Eine vermutlich ältere Dame beklagt, sie habe immer noch keine Enkelkinder, da die Zeiten momentan so schlecht dafür seien… 

Die Begegnung mit einer schon etwas betagten Dame, die ich neulich auf einer Parkbank traf, kommt mir dabei wieder in den Sinn. Die Dame, eine ehemalige Opernsängerin, antwortete auf meine Frage, wie es um ihr Verhältnis zu ihren Nachbarn stehe: „Vor dem Kommunismus hatten die Leute Angst vor Gott, während des Kommunismus machte uns die gemeinsame Angst vor der Partei zu Verbündeten. Und heute? Heute hat keiner mehr Angst vor niemandem! Heute herrscht Anarchie!“ 

Mir scheint, als lägen die Gräben zwischen den Generationen noch viel tiefer, als in den Staaten des ehemaligen „Westblocks“. Während die älteren Menschen die Zeit des Kommunismus zum Teil in den Himmel loben, kennen die Post-1990er-Jahrgänge die „goldenen Zeiten“ nur aus den Erzählungen ihrer Verwandten und können darüber nur schmunzeln. Diese junge Generation, so scheint mir, füllt diesen Graben verstärkt mit materiellen Dingen aus, von denen ihre Eltern und Großeltern einst nur zu träumen wussten. Ľudmila nennt das den „postkommunistischen Komplex.“ 

Die Künstlerin lebt mit ihren Eltern, ihrem älteren Bruder und ihrer Großmutter noch unter einem Dach. - Ein Auslaufmodell, und zwar in ganz Europa… 


Ľudmila Horňáková setzte ihr Projekt auf der Werbefläche im Rahmen des zehntätigen Projektes Medzicentrum IV. um, welches unter der Leitung von Nina Šošková vom 19.-27. Juli erstmalig in Košice stattfand. 

Die Ausstellung über die Aktivitäten der Gruppe „Von z kruhu“ ist im Vymmenik Brigadnícka, dem rekonstruiertem Wärmespeicher auf der Straße Brigadnícka in Košice, bis zum 1. August zu sehen. 

Mehr Informationen und Kontakte zur Gruppe „Von z kruhu“ gibt es hier.
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Dienstag, 2. April 2013

Nachtzug nach Košice


In Pascal Merciers Roman nimmt Raimund Gregorius den Nachtzug nach Lissabon. – Mein Nachtzug geht nach Košice. Wie der Protagonist des gerade verfilmten Romans stehe auch ich vor der Frage „Wenn […] wir nur einen kleinen Teil von dem leben können, was in uns ist – was geschieht mit dem Rest?“

Ich will es wagen – mein kleines slowakisches Abenteuer. Packe meine Koffer, steige in Hamburg in den Zug und fahre Richtung Osten. In Košice, der 240.000 Seelen Stadt, der zweitgrößten der Slowakischen Republik, liegen meine Wurzeln. Hier bin ich 1986 geboren. Es ist die Heimat meiner Familie. Auch meine ist es auf eine Weise. Sie wäre es geworden, hätten meine Eltern sich damals nicht entschieden dem Sozialismus den Rücken zu kehren. Sie setzten meine Schwester und mich auf die Rückbank unseres Škodas und auf ging es in den Westen.  – Wir können nur einen kleinen Teil von dem leben, was in uns ist. Nun habe ich fünf Monate lang Zeit zu entdecken, wie sich dieser Teil anfühlt. 

Ich will als Stadtschreiberin ganz nah sein an Košice, seinen Menschen und der Umgebung. An dieser kleinen Stadt in der Ostslowakei, die sich noch etwas schüchtern gewöhnen muss an ihren Titel der „europäischen Kulturhauptstadt 2013“. Seit jeher ist Košice Schmelztiegel verschiedener Kulturen und Bräuche und steht sinnbildlich für Völkerwanderungen, Kriege und Wirrungen im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts. Košice wechselte binnen weniger Jahrzehnte mehrfach die Staatsangehörigkeit – ohne sich dabei auch nur einen Schritt vom Fleck zu bewegen. Wer kann dies schon von sich behaupten?

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lebten hier Juden, Deutsche, Ungarn und Slawen friedlich miteinander. Bis heute sind viele Bewohner der Stadt Košice bilingual. Daneben konnten sich einige wenige deutschsprachige Inseln in der Region halten – der forcierten Assimilierung durch das ungarische Königreich und den russischen Besatzern nach dem Zweiten Weltkrieg zum Trotz. In ostslowakischen Orten wie Metzenseifen oder Stoß spricht man heute noch den „mantakischen Dialekt“.

Wie wirkt sich die wechselvolle Geschichte der Stadt Košice und der Umgebung auf ihre Bewohner aus? Welche Erfahrungen machten sie in den politischen Umbrüchen? Mit welchen Herausforderungen lebt hier die junge Generation, die bereits im post-kommunistischen Staat aufgewachsen ist?

Über all das will ich schreiben. Nach 20 Stunden Fahrt, nach über 1200 Kilometern komme ich in meiner neuen-alten Heimat an. Mein slowakisches Abenteuer kann beginnen.

Nachtzug nach Košice - in Bildern

Nachts in Prag geht die Reise los

mit dem Schlafwagen
Viele Hunderte Kilometer rattert der Zug durch die Nacht
Nebelverhangen beginnt der nächste Morgen
Plötzliche Ankunft am Bahnhof Košice
Ich bin am Ziel. Endstation Košice.
Willkommen in der Kulturhauptstadt Europas
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